ALTE SYNAGOGE ESSEN
ALTE SYNAGOGE IST NUN ERLEBNISRAUM


Diese Frage wird sich neuerdings wahrscheinlich jeder Besucher der alten Synagoge in Essen stellen: Darf ich das überhaupt – mich einfach so auf der Orgel-Empore des ehemaligen jüdischen Bethauses hinfläzen? Ein bisschen "chillen" oberhalb des Thora-Schreins? Aber dafür sind die Designer-Liegen aus Buchenholz genau an diesem Ort schließlich platziert. Also macht man es sich mit einem bestenfalls halb schlechten Gewissen bequem und schaut an die Decke des Tonnengewölbes. Dort werden kreisrunde Flächen bestrahlt, mal mit alten Fotos, mal mit Zahlen: Eine ist 1913, das Jahr der Einweihung, eine andere das Jahr 1938, als die Nazis den Innenraum der Synagoge zerstörten. Auch 1956 leuchtet kurz als ein Markstein der Geschichte auf – denn nur bis zu diesem Jahr diente das Haus der jüdischen Gemeinde von Essen als Ort der Versammlung.
Ein besonderes Raumerlebnis


Raumerlebnis. Die umfangreichen, gut zwei Jahre währenden Bauarbeiten haben die Synagoge von innen praktisch vergrößert. Etliche Zwischenwände wurden entfernt
und Verwaltungsräume abgerissen; so entstand eine weitere Empore über dem Eingang und noch über der so genannten Frauenempore, die einen Blick in etwas freigibt, was man umbaute Weite nennen könnte. Alles in diesem Haus atmet nach diesem konsequenten Umbau Größe und Weite. Und damit nichts den Blick hinein in den großen und doch so harmonischen Hauptraum verstellt, wurde auch der mächtige Kronleuchter abgenommen. Dieser Raum ist ein Erlebnis, das niemanden unberührt lassen kann.
Gebaute Verständigung


Der Blick schweift jetzt durch den Raum und findet Halt im Thora-Schrein aus poliertem Muschelkalk, dessen hebräische Inschrift aus leuchtend bunten Mosaiksteinchen gemahnt: "Wisse, vor wem du stehst." Genau diese Spannung ist es, die Essens Synagoge so einzigartig macht: das Wechselspiel zwischen einer vitalen Gegenwart und einer erinnerungsmahnenden Vergangenheit, zwischen dem jüdischen Glauben und der jüdischen Kultur, die – mutig, aber konsequent – immer wieder auf Unterhaltung setzt. Das ist ganz besonders in der Abteilung "Jüdischer Way of Life" der Fall. Ein großer Glaskasten wird dort zur Tanzschule, in dem Besucher die Bewegungen einer Schattenfi gur verfolgen und auf diese Weise jüdische Tänze erproben können. Tanzen und Tanzenlernen in einer ehemaligen Synagoge? Edna Brocke kann darin keinen Widerspruch erkennen. Schließlich dienten auch früher die Bethäuser den jüdischen Gemeinden zu frohen Zusammenkünften und Festen. Das Haus ist zwar heute keine Synagoge mehr, aber es nimmt auf diese dezente Weise jenen Faden wieder auf, der aus der Anfangszeit des Hauses zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu uns hinüberreicht. Und gleich neben dieser Tanzschule wird an einem Fließband die Kenntnis über koscheres Essen abgefragt und auch ein Superman-Kostüm ausgestellt, dessen Brust ein mächtiger Davidstern schmückt. Jede Menge zu erlernen und zu erfahren gibt es zudem per Touchscreen-Monitor; nicht nur iPhone-Besitzer werden ihre helle Freude daran haben.


Ein Dialog der Religionen


Ein Angebot im Plural
Die Alte Synagoge wird mit ihrem neuen Konzept keineswegs attraktiv für Erinnerungsallergiker. Aber sie zeigt, dass das Judentum mehr als eine Religion ist, dass es das eine Judentum so nicht gibt. Für Brocke ist die Schau ein "Angebot im Plural"; und wenn ein Besucher künftig die Synagoge mit dem Eindruck verlässt, er verstehe jetzt nichts mehr, so ist das für die Leiterin durchaus ein Erfolg – Teil ihres "konstruktiven Dialogkonzepts".

Interview mit Edna Brocke: "Wir trauern ohne Trauerflor"
Drückt sich im neuen Haus auch ein neues jüdisches Selbstverständnis aus, eine Identität, die sich nicht mehr vorrangig auf die Schoah bezieht?Brocke: Ich hoffe, es wäre so. Ich verstehe die Umsetzung unserer Konzeption sowohl in die jüdische Gesellschaft hinein als auch in die nicht jüdische – als Versuch zu sagen: Wir möchten die beiden Zeitdimensionen Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig im Blick haben.
Man hat mit dem Umbau ein neues Raumerlebnis bekommen – ist damit auch eine neue Erfahrbarkeit von jüdischer Kultur verbunden?
Das war unser Hauptbeweggrund. Wir wollten die Besucher emotional erreichen. Vorher war alles recht düster, selbst die Stühle waren schwarz. Das war beim Umbau 1986 so beabsichtigt als Gedenkstätte für den deutschen Widerstand; erst danach kam die Ausstellung über jüdisches Leben. Gerade ein Raum, in dem Erinnerung und Gedenken ihren Platz haben, muss nicht sofort Beklemmung auslösen. In dem Riesenhauptraum, der jetzt überhaupt erst sicht- und fühlbar geworden ist, präsentieren wir in einer Nische eine Liste mit den Namen der Ermordeten und mit den Gedenkblättern. Uns war wichtig, die Abwesenden hier im Hauptraum anwesend zu haben. Wir erinnern an sie und an die Geschehen ohne Trauerflor.
Erinnert das Haus jüdischer Kultur auch an den Urgedanken von Synagoge – nämlich auch eine Stätte der Begegnung und des Lernens zu sein?
Ja, und dies vorrangig. Eine Synagoge ist das Haus der Versammlung; wir versammeln uns, um zu lernen, um mit anderen Juden zusammen zu sein, um uns zu freuen und zu trauern. Es umfasst viele Bereiche des täglichen Lebens. Einen jüdischen Way of Life kann man nicht nur beschreiben, den muss man auch erleben. Wir möchten Brücken bauen, ohne permanent ein Schild vor uns herzutragen: Wir bauen jetzt eine Brücke.
Stand der Angaben: Magazin der NRW-Stiftung 3/2010
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