WIEDENBRÜCKER SCHULE MUSEUM
SCHULISCHE MEISTERLEISTUNGEN


Foto: Lars Langemeier
Wer beim Besuch des "Wiedenbrücker Schule Museums" an Rohrstöcke und Schiefertafeln denkt, liegt damit zwar völlig falsch. Mit seiner Versetzung darf aber auch der Ahnungslose rechnen – der Versetzung in die Zeit des "Historismus", als in Deutschland die Türme in den Himmel wuchsen. Es waren die Türme zahlreicher neuer Kirchen, die jedoch oft aussahen wie die romanischen Dome oder gotischen Kathedralen der Vergangenheit. Denn ausgerechnet als das Zeitalter der Industrie sich daran machte, die Welt zu revolutionieren, bauten die Architekten gerne im Stil des Mittelalters.
DIE SPUR DER ALTÄRE
Der Neubau oder die Umgestaltung zahlreicher Kirchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Bevölkerung in den Städten und Ballungsgebieten durch die Industrialisierung rasant anwuchs, schufen einen gewaltigen Bedarf an kirchlichem Inventar. Wie gewaltig, das beweisen die Datenbanken des "Wiedenbrücker Schule Museums" höchst eindrucksvoll: Mehr als 700 Kirchen, die ihre Ausstattung ganz oder zum Teil aus Wiedenbrück bezogen haben, sind darin verzeichnet – Tendenz steigend. Die Spuren von Altären, Gemälden, Kanzeln oder Beichtstühlen im Stil des Historismus führen dabei weit über die deutschen Grenzen hinaus, nicht nur ins europäische Ausland, sondern sogar über den "Großen Teich" bis nach Amerika oder Kanada.


Zur Kunst der Wiedenbrücker Schule gehörte daher auch die Kunst der Öffentlichkeitsarbeit – in Form von Prospekten, Inseraten und Werbeschriften. Und es kam auf eine gute Ausbildung an. Der Besucher kann im Museum nachvollziehen, wie es gegen staatliche Widerstände gelang, in der Stadt eine eigene Zeichen- und Modellierschule zu etablieren, deren Lehrpläne auf die speziellen Anforderungen des Kunsthandwerks am Ort zugeschnitten waren. Womit nebenbei klar wird: Der Ausdruck "Wiedenbrücker Schule" bezeichnet nicht nur eine künstlerische Richtung, sondern auch ein ganz konkretes Lehrinstitut.
GESAMTKUNSTWERKE
Dass sich ausgerechnet ein kleines Städtchen in Ostwestfalen zu einem so produktiven Zentrum der Sakralkunst entwickelte, das lag nicht zuletzt aneinem einzelnen Mann: Franz Anton Goldkuhle. Der in Wiedenbrück geborene Holzschnitzer eröffnete 1854 in seiner Heimatstadt eine Kunsttischlerei, die zehn Jahre später den Hochaltar für die Wiedenbrücker Franziskanerkirche anfertigte. Aus der erfolgreichen Durchführung dieses Projekts erwuchsen für Goldkuhle bald auch Kontakte zu Kirchenbaumeistern außerhalb Wiedenbrücks – und entsprechende Anschlussaufträge. Goldkuhle verband künstlerisches Geschick mit geschäftlichem Gespür, weshalb er die Produktpalette seines Betriebes zu vergrößern versuchte, indem er zusätzlich Maler, Ornamentkünstler und Bildhauer einstellte. Die enge Zusammenarbeit unterschiedlicher Kunsthandwerke, die zu den wichtigsten Erfolgsgeheimnissen der Wiedenbrücker Schule gehört, differenzierte sich im Laufe der Zeit immer weiter aus: Um das Jahr 1900 gab es nicht weniger als fünfzehn unterschiedlich spezialisierte Kunstbetriebe in Wiedenbrück, die teilweise von ehemaligen Angestellten Goldkuhles gegründet worden waren, wie beispielsweise dem Bildhauer Anton Mormann. Dieses breite handwerkliche Spektrum machte es möglich, innerhalb der Stadt komplette Kirchenausstattungen vom Glasfenster bis hin zum Beichtstuhl herzustellen. Für die Wiedenbrücker Werkstätten war dies ein wichtiger Standortvorteil: Denn gerade für das 19. Jahrhundert, in dem zum ersten Mal der Begriff des "Gesamtkunstwerks" aufkam, war es eine besonders reizvolle Vorstellung, "gotische" oder "romanische" Kirchen wie aus einem Guss zu bauen – und auszustatten.
DER DOM IM DORF
Leider sind die meisten dieser kirchlichen "Gesamtkunstwerke" spätestens in den 1960er- und 1970er-Jahren – auch im Gefolge der Liturgiereformen des II. Vatikanischen Konzils – wieder zerstört worden. Denn sehr oft wurden die aufwendigen historistischen Originalausstattungen zugunsten schlichter "Kirchenmöbel" wieder entfernt, die den Raumeindruck oft völlig veränderten. Man findet in Nordrhein-Westfalen aber zum Glück noch zwei hervorragende Beispiele für Original-Inventar unter Beteiligung Wiedenbrücker Künstler: die neoromanische Kirche St. Johannes Baptist im sauerländischen Rüthen und die 1903 erbaute neogotische Kirche St. Ida in Herzfeld bei Lippstadt, an deren Einrichtung gleich vier Wiedenbrücker Werkstätten beteiligt waren. St. Ida mit ihrem 78 Meter hohen Turm gehört zu den typischen westfälischen "Dorfdomen" – auffallend überdimensionierte Gotteshäuser, die konfessionelles Selbstbewusstsein weithin sichtbar demonstrieren sollten. Denn auch die so nostalgisch wirkende Kunst des Historismus entstand ja keineswegs fernab von Politik und Interessenkonflikten. Gerade die zum Staat in krasser Opposition stehende katholische Kirche war unter der Regierung Bismarcks lange rigoros bekämpft worden. Schon ein paar regierungskritische Worte in einer Predigt konnten für einen Geistlichen damals die Verhaftung bedeuten. Bismarck hingegen wäre in den Jahren des "Kulturkampfes" deswegen sogar fast dem Attentat eines aufgebrachten katholischen Handwerksgesellen zum Opfer gefallen.
KRIPPEN UND MÖBELTISCHLEREI
Als das Ende der Wiedenbrücker Schule kam, war das Bismarckreich von 1871 bereits Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg gerieten viele der Betriebe zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die große Zeit historistischer Kunst war vorbei, und die Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre tat ein Übriges. Während einige Werkstätten ganz schlossen, setzten andere jetzt vor allem auf nicht sakrale Kunstwerke, die in der Hochzeit der Wiedenbrücker Schule immer nur eine Nebenrolle gespielt hatten. Manche spezialisierten sich auch auf besondere Marktnischen wie die Firma Mormann, die noch nach dem Zweiten Weltkrieg Krippen herstellte und zerstörtes Kircheninventar restaurierte. Und wieder andere besannen sich darauf, dass das Holzhandwerk zwar eine hohe Kunst sein kann – aber nicht sein muss. Sie widmeten sich fortan der ganz normalen Möbeltischlerei.
DER HIMMEL UND DER HISTORISMUS


Bild: Lars Langemeier
Zwischen 1845 und 1920 waren in Wiedenbrück nicht weniger als 25 Werkstätten damit beschäftigt, komplette Kirchenausstattungen herzustellen – von Fenstern über Skulpturen bis hin zu Beicht-stühlen. Im Sinne des Historismus orientierte man sich dabei an der Romanik und der Gotik des Mittelalters. Der Erfolg war außerordentlich: Hunderte Kirchen haben ihre Ausstattung ganz oder zum Teil aus Wiedenbrück bezogen. Die Lieferungen gingen nach Deutschland und Europa, aber auch in die USA und nach Kanada. Eine ebenso fesselnde wie stimmungsvolle Möglichkeit, einem der bemerkenswertesten Kapitel der westfälischen Kunstgeschichte nachzuspüren, bietet heute das "Wiedenbrücker Schule Museum". Es ist in einem ehemaligen Altarbildhauerbetrieb aus dem 19. Jahrhundert untergebracht und konnte mit maßgeblicher Hilfe der NRW-Stiftung eingerichtet werden.
Stiftungsmagazin 3/2013

DIE GOTIK UND DIE NEUGOTIK
Das neue Wiedenbrücker Schule Museum ist in einer ehemaligen Altarbauwerkstatt untergebracht. "Ausgerechnet Gotik!" So hätte wohl mancher Zeitgenosse des 17. oder 18. Jahrhunderts auf den Gotikboom des 19. Jahrhunderts reagiert. Denn gerade die mittelalterliche Gotik galt in der frühen Neuzeit, d.h. vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, bei vielen Kunstinteressierten als Inbegriff der Geschmacklosigkeit. Das zeigt schon der wenig schmeichelhafte Name, den man im 16. Jahrhundert in Italien für sie prägte: "Gotico" bedeutet schlicht "barbarisch" – nach dem angeblich besonders barbarischen Volk der Goten, mit dem die gotische Kunst aber gar nichts zu tun hat. Auch das berühmteste gotische Bauwerk Deutschlands war lange sehr stiefmütterlich behandelt worden: Der schon 1248 begonnene Kölner Dom lag zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch immer als halb vollendeter Torso da, seit 1560 die Bauarbeiten eingestellt worden waren. Erst als sich um 1800 zunehmend eine romantische Mittelalter-Begeisterung entwickelte, wurde er sogar zum Symbol für das damals noch in viele Teilstaaten zerrissene Deutschland erhoben. Denn so wie der Domtorso müsse auch Deutschland seine "trümmerhafte Unvollendung" überwinden, meinte 1814 der Publizist Joseph Görres. Als der Dom 1842 endlich weitergebaut wurde, verklärten viele die Gotik sogar zum "deutschen Nationalstil". Doch eigentlich stammt sie ursprünglich aus Frankreich, und auch das "Gothic-Revival" war keineswegs nur eine deutsche Angelegenheit. Besonders "unübersehbar" sind die Beispiele dafür in den USA. Denn während sich in Köln ab 1880 endlich die fertigen Domtürme in den Himmel reckten, kratzten in Amerika die ersten Hochhäuser schon an den Wolken. Doch viele frühe Wolkenkratzer sehen im Grunde kaum anders aus als neugotische Kathedralen. Die erst 1936 vollendete "Cathedral of Learning" in Pittsburgh beispielsweise gleicht einem gotischen Turm fast zum Verwechseln.
Stand der Angaben: Magazin der NRW-Stiftung 1/2009
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